Selbstverständnis

Selbstverständnis und Gründungserklärung der URL Jena

Corona, Krieg, Klima, Kapitalismus – Krise reiht sich an Krise, deren Beständigkeiten viele linke Organisationen nicht überleben. Auch in Jena spiegelt sich die Unbeständigkeit linker Szenestrukturen wider; darüber hinaus spezialisieren sich die bereits bestehenden Gruppen oftmals auf ihre Fokusthemen. Eine thematisch breit aufgestellte Gruppe, die je nach sich ändernden und entwickelnden politischen Lagen handeln kann, fehlt in der linksradikalen Jenaer Politlandschaft aktuell. Wir möchten diese Lücke füllen und gründen hiermit die Undogmatische Radikale Linke (URL) Jena.

Einige Grundgedanken

Der Kapitalismus hat sich als ein hochproblematisches, zerstörerisches System erwiesen. Das zeigt sich an Klimakrise und Naturausbeutung, welche einer Profitlogik folgen und das Fortbestehen der Menschheit gefährden. Es wurde aber schon vor der ‘aktuellen’ Klimakrise an massenhafter Armut und Existenzangst deutlich, die aufgrund der gesellschaftlichen Spaltung in Besitzende und weitestgehend Besitzlose, Gewinner*innen und Verlierer*innen zwangsläufig entsteht. Und auch die omnipräsente psychische Belastung von Lohnarbeitenden und Studierenden, Sorgearbeitenden und Schüler*innen ist keineswegs im luftleeren Raum gewachsen, sondern durch das kapitalistische Leistungssystem. Außerdem ist für uns klar: Herrschaftssysteme wie Rassismus, Patriarchat, Ableismus, Queerfeindlichkeit uvm. bestehen nicht losgelöst von ökonomischen Fragen in Vorurteilen und Repräsentationsverweigerungen. Vielmehr vereinen sie Ausbeutung (bspw. in un(ter)bezahlter Sorgearbeit und prekären Berufen) und Unterdrückung (bspw. Verwehrung politischer Macht, Gewalt und Abwertung).
All diese Probleme und Missverhältnisse sind jedoch nicht erst vor Kurzem und unerwartet auf den Plan getreten: sie sind über Jahrzehnte und Jahrhunderte mit der Entwicklung des Kapitalismus entstanden! Der Behauptung, dass dieser also nur besser umgesetzt werden müsste, dass uns beispielsweise ein ‘Green New Deal’ o.ä. retten könnte, stellen wir uns daher entschieden entgegen.
Es ist klar: es braucht ein anderes System. Damit meinen wir keine Rückkehr zum Realsozialismus, zu autoritären oder totalitären Systemen. Wie genau dieses aussieht, lässt sich nur durch gelebte Praxis und unermüdliche Aushandlungsprozesse herausfinden.
Fest steht: Ein Kampf gegen Klimakrise, Rassismus, Patriarchat, etc. muss immer antikapitalistisch sein. Daher braucht es eine radikale Linke, die sich dagegenstellt.

Aus Panzerknacken wird URL

Öffentlich in Erscheinung getreten sind wir bereits als Panzerknacken Jena. Der thematische Fokus auf Anti-Militarisierung ist nicht nur wegen der deutschen Aufrüstung oder wegen Waffenlieferungen für den Angriffskrieg der Türkei (gegen Rojava) entstanden. Viel mehr sehen wir die Möglichkeit und Notwendigkeit, verschiedene linksradikale Kämpfe zusammenzubringen. Auch hier nahmen wir zum Zeitpunkt der Gründung eine thematische Lücke in der Jenaer Linken wahr, die wir zu schließen versuchen. Gemeinsam mit unseren Freund*innen der Kurdistan-Soli-Gruppe bauen wir eine linksradikale Position gegen Krieg, Militarisierung und Waffengeschäfte in der Region auf.

Dennoch verstehen wir uns nicht als single-issue Gruppe: Wir werden uns einbringen in verschiedene Diskurse und unser aktives Themenfeld erweitern. Vor dem nächsten anstehenden Krisenwinter mit Corona, Inflation und Krieg wollen wir überlegen, wie soziale und solidarische Kämpfe geführt werden können. Diese Kämpfe wollen wir aktiv gestalten. Wir sehen des Weiteren die Sorge, dass diese Themen von rechts vereinnahmt werden könnten: Hier wollen wir eine antifaschistische und sozial gerechte Antwort auf die Straße bringen!

Wie verstehen wir uns?

Undogmatisch

Wir verstehen uns als undogmatisch. Es ist uns wichtig auf die Kritik anderer linker Gruppen eingehen zu können, unsere eigenen Analysen und Positionen immer wieder zu hinterfragen und diese gegebenenfalls zu ändern. Auch dieses Selbstverständnis ist kein abgeschlossenes, denn mit gesellschaftlicher Veränderung entwickeln auch wir uns weiter. Unsere Struktur wird sich im Hinblick auf neue Anforderungen und Erfahrungen verändern. Wir sehen eine undogmatische Herangehensweise als wichtigen Versuch, trotz unterschiedlicher Analysen und Strömungen innerhalb der radikalen Linken, gemeinsam in einem solidarischen und offenen Umgang Politik zu machen. Außerdem erlaubt es eine Bündnisarbeit, durch die wir besser konkrete Missstände angehen und linksradikale Positionen in Diskurse und Kämpfe einbringen können. Wir gehen Bündnisse ein, bei denen wir das Potenzial sehen, mit linksradikalen Positionen etwas verändern zu können. Denn wir wollen eine Linke sein, die sich einmischt.

Überregional vernetzt

Wir sehen, dass linksradikale Kämpfe an allen Orten relevant sind und häufig ähnlich geführt werden. Daher erachten wir eine überregionale Vernetzung als sinnvoll, um Skills und Erfahrungen auszutauschen, und um uns praktisch in unseren Kämpfen zu unterstützen. Des Weiteren sehen wir in einer überregionalen Vernetzung die Chance, schlagfertig und beständig organisiert zu sein.

Lokale Bedingungenen berücksichtigend

Der von uns verfolgte bündnisorientierte Politikansatz entstand überwiegend in westdeutschen Politikzusammenhängen. Doch lässt sich dieser nicht unreflektiert auf die ostdeutschen Gegebenheiten übertragen.Nach der Wende führte unter anderem die Treuhand zur Herstellung einer bis heute vorhandenen Perspektivlosigkeit und Abgehängtheit; andauernde Lohn- und Vermögensungleichheit, schlecht finanzierte und ausgebaute Infrastruktur sowie prekäre Arbeitsbedingungen sind seitdem Resultat des nach westdeutschen Interessen durchgeführten Vereinigungsprozesses. Rechtsextreme Strukturen, die sich nach der NS-Zeit in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich weiterentwickelten, und unter dem autoritären DDR-Regime relativ frei handeln konnten, blühten im aufkommenden Nationalismus in den 90er Jahren stark auf; der Mauerfall vereinfachte zudem den Austausch und die Mobilisierung von west- und ostdeutschen Nazis. Eine überwiegend autonom agierende Linke führt notwendigerweise vor allem Abwehrkämpfe und leistet wichtige Feuerwehrarbeit. Eine breite Bündnisarbeit gestaltet sich an vielen Stellen schwierig.Für uns heißt das, dass wir unsere Arbeit und unseren Politikansatz kritisch hinterfragen, wo welche Politik notwendig und erfolgreich für gesellschaftliche Veränderung sein kann. Wir suchen die Verbindung zu bestehenden Gruppen in der Region und werden unsere Arbeit danach ausrichten. Wir möchten die rechte Hegemonie außerhalb linker Leuchttürme brechen und die linken Strukturen vor Ort unterstützen.

Basisdemokratisch

Desweitern sind wir als Gruppe basisdemokratisch organisiert und stellen an uns den Anspruch Hierarchien in der Gruppe aufzuzeigen, zu benennen und (wenn möglich) zu überwinden.

Betroffenensolidarisch

Wir sehen und wissen um die Problematik von sexueller/ sexualisierter Gewalt und Sexismus in der linken Szene und wollen solidarisch an der Seite der Betroffenen stehen. Als Gruppe setzen wir uns präventiv mit der Thematik auseinander und möchten uns in den dazu bereits bestehenden Kontexten einbringen sowie Verantwortung übernehmen. Weiterhin stellen wir an uns den Anspruch, uns mit anderen Formen der Diskriminierung und Ausgrenzung auseinanderzusetzen, diese intern zu reflektieren und ihnen entgegenzuwirken. Wir sind dabei immer offen für Kritik und Anmerkungen von außen.

Wie wollen wir arbeiten?

Um als Gruppe zusammenarbeiten und langfristig arbeitsfähig sein zu können, haben wir einige (sich erweiternde) Ziele der internen Organisation, die wir offenlegen wollen.

Hürdenabbau und Zugänglichkeit: Damit sich sowohl erfahrene Aktivist*innen als auch völlig neue Menschen wohl fühlen und sich insbesondere Gruppeneinsteiger*innen in der Lage fühlen sich einzubringen, wird daran gearbeitet Hürden im Bereich der Sprache, des Wissens, der Umgangsformen und Verhaltensweisen, etc. abzubauen.

Selbstbildung und Selbstreflexion: Getreu dem Motto ‘man lernt nie aus’ begreifen wir das Wissen, das unsere politische Praxis begleitet, nicht als abgeschlossen. Durch gemeinsame Lernprozesse und Selbstreflexion wollen wir die Gruppe als dynamische, prozesshafte Einheit verstehen.

Offen für neue Impulse sein: Bei unseren Diskussionen und Projekten gehen wir offen und wertschätzend mit neuen Impulsen, sei es von innen oder von außen, um.

Umgang miteinander: Wir wollen in Gemeinschaft Politk machen, nicht rein funktional. Konkret bedeutet das bspw. ein Bewusstsein für soziale Beziehungen und Dynamiken untereinander zu schaffen und sich solidarisch (bei Repression o.ä.) zu unterstützen.

Alle, die sich in dieser Gründungserklärung wiederfinden, möchten wir einladen, mit uns Kontakt aufzunehmen und sich uns anzuschließen. Wir freuen uns auch über solidarische Kritik und Anmerkungen: Unsere Organisierung lebt vom Prozess, von Austausch und Diskussion, vom Weiterdenken und Verändern.

 

URL Jena im September 2022

Kontakt: url-jena@riseup.net